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«Ich pfeife nur ein Lied, wenn ich traurig bin», hat meine Mutter gesagt. – Sie hat fast immer gepfiffen.

C. Stüssi Kuhn

«Als Kind war ich oft krank. Manchmal spürte ich meine Beine nicht mehr, fiel hin oder es wurde mir schwindlig. Ich sei schwächlich und hätte eine Gelenkentzündung, hiess es dann. Die Diagnose «Multiple Sklerose» bekam ich erst nach der Geburt meiner zweiten Tochter. Das war ein Schock – und gleichzeitig eine Erleichterung, hatte doch die Krankheit endlich einen Namen.» 

Ich bin in Kleinlützel geboren, gleich an der Grenze zum Elsass, als siebtes von acht Kindern   – vier Mädchen, vier Buben. Der Altersunterschied zwischen meiner ältesten Schwester und der jüngsten betrug fast zwanzig Jahre. Das lag auch daran, dass meine Mutter während des Krieges eine «Babypause» hatte, da mein Vater eingezogen wurde. Nach Kriegsende hat sie mit Mitte Vierzig dann noch zwei Töchter gekriegt; mich und meine jüngere Schwester Agatha. Wir sind auch die Einzigen von damals, die noch leben. 

Meine Mutter…? Da kann ich nur sagen: «Jesses, das isch e Mamme gsi!» Was diese Frau durchgemacht hat, ist unvorstellbar. Mein Vater war dem Alkohol verfallen, er hat buchstäblich alles versoffen, so dass uns rein gar nichts mehr blieb. Schlussendlich nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Doch meine Mutter hat auch den schlimmsten Zeiten das Lachen nicht verlernt, das hat sie über Wasser gehalten. Oft hat sie ein Lied vor sich hin gepfiffen. «Ich pfeife nur, wenn ich traurig bin», hat sie mal gesagt. In meiner Erinnerung höre ich sie immer pfeifen. 

Im Fotorahmen ihre "taffe Mama".

Meinen Vater habe ich fast nie nüchtern erlebt
Früher besass mein Vater ein eigenes Spenglerei-Geschäft und hat beispielsweise auch das Kirchendach renoviert. Er war ein guter Fachmann und muss ein netter Kerl gewesen sein, wenn er nüchtern war. Ich habe ihn nur fast nie nüchtern erlebt. Wenn er getrunken hatte, wurde er aggressiv und gewalttätig, dann hat er gewütet und getobt. Vor allem meine Brüder sind von ihm schlimm verprügelt worden, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Meine älteren Geschwister sind deshalb früh ausgezogen. Meine Mutter hat stets versucht zu schlichten. Doch dann ist mein Vater auf sie losgegangen. Ironischerweise hiess er Joseph und meine Mutter Maria. 
Irgendwann konnte meine Mutter nicht mehr so weitermachen. Sie hat Agatha und mich gepackt und ist zu meiner ältesten Schwester nach Hertenstein gezogen, auf den Bauernhof des Schwiegersohns. Wir dachten, dass unser Leben jetzt einfacher würde. Weit gefehlt. Wir sind buchstäblich vom Regen in die Traufe gekommen. Meiner Schwester und ihrem Mann fehlten Hilfskräfte, um den Hof und die Felder zu bestellen, und so sind wir quasi ihre Mägde geworden, alle drei. Agatha und ich waren damals um die fünf und sieben Jahre alt. Wir durften nicht mal mit den Kindern meiner ältesten Schwester spielen, sondern hatten vor und nach der Schule nur zu arbeiten, meist bis spät in die Nacht hinein. Und meiner Mutter ging es nicht besser, im Gegenteil.

Als Kinder kannten wir kein festes Zuhause
Zweieinhalb Jahre sind wir dortgeblieben. Was dann folgte, war eine jahrelange Odyssee – nach Hertenstein ging’s für kurze Zeit nach Bassersdorf, zusammen mit meiner ältesten Schwester und ihrer Familie, dann zurück in den Weiler Huggerwald und anschliessend wieder nach Kleinlützel. Meine Mutter ist mit uns zwei Mädchen hin- und hergezogen, mal sind wir beim ältesten Bruder untergekommen, dann wieder bei einer der Schwestern meiner Mutter, die in Kleinlützel wohnte. Als Kinder sind wir so nie richtig angekommen und kannten kein Zuhause. Wir mussten oft die Schule wechseln und kaum fanden wir Freunde, sind wir auch schon wieder umgezogen. 

Unser einziges Gepäck bestand aus zwei Harassen mit unseren Kleidern drin
Meine Mutter besass nicht mal mehr eine eigene Pfanne. Und eine richtige Arbeit, geschweige denn eine Wohnung, bekam sie trotz aller Bemühungen lange Zeit nicht – zu schlecht war der Ruf meines Vaters, der sie überall hin verfolgte. «Was? Sie sind diä vom Lötscher? Nei, Lötschers wemer nid» hiess es. Meine Mutter trug immer noch den Nachnamen meines Vaters. Als gute Katholiken liess man sich damals unter keinen Umständen scheiden. Von meinem Vater, der in der Zwischenzeit zu seinem Bruder gezogen war, kriegten wir keinerlei Unterstützung. Das bisschen Geld, das er noch hatte, ist im Wirtshaus draufgegangen. 

Für einen Franken pro Stunde schliff meine Mutter die Köpfe von Tabakpfeifen
Meine Mutter hielt uns mit allen möglichen Arbeiten über Wasser, meistens half sie auf Bauernhöfen aus. Irgendwann hatte der Förster von Kleinlützel ein Nachsehen und verhalf uns zu einer Wohnung in seinem Elternhaus. Da konnten wir nach all den Jahren des Hin- und Her endlich aufatmen. Meine Mutter fand Arbeit in den Pfeifenfabriken von Kleinlützel. Drei Pfeifenfabriken gab es damals, Pfeifenrauchen war gang und gäbe. Für den Stundenlohn von einem Franken schliff meine Mutter die Pfeifenköpfe. «Weisch jetzt gats eus doch guet», sagte sie immer wieder mal. Und der Förster ist uns oft zur Seite gestanden. Er war viele Jahre älter als meine Mutter und ich kann nur Gutes über diesen Mann sagen. Er hat uns auch einen neuen Stubenboden verlegt, weil der alte durchgehangen war. 

Nach dem obligaten Welschlandjahr fand ich, dank meines Bruders, in Zürich eine KV-Lehrstelle. Wir acht Geschwister funktionierten oft wie eine Seilschaft, einer hat den anderen mitgezogen. Meine erste richtige Stelle trat ich später in der Spirella-Vorhangfabrik an, die damals noch sehr klein war. Ich durfte am Aufbau mitarbeiten, das war der Anfang einer glücklichen Zeit. 

Manchmal brachte mir die Comtesse sogar einen Kaffee ans Bett
Anschliessend arbeitete ich fast zwei Jahre lang als Au-Pair, zuerst in London, dann in Paris. Im Winter 1963 fuhr ich mit dem Zug nach London. Das war der kälteste Winter seit Menschengedenken, in der Schweiz gab es die «Seegfröri», und die Kälte in London damals war unbeschreiblich, ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich nur daran denke. Die einzigen englischen Worte, die ich kannte, waren «bread and butter.» Ich kam dort zu einer lieben Familie, bei der ich fast ein Jahr lang blieb. Danach fuhr ich nach Paris und lebte als Au-pair bei einer adligen Familie, einem Comte und einer Comtesse. Sie hatten jedoch keinerlei Standesdünkel, hin und wieder hat mir die Comtesse sogar einen Kaffee ans Bett gebracht. Auch dort war ich immer mal wieder krank, spürte meine Beine nicht mehr, hatte Fieber und ein taubes Gefühl in den Händen.

Nach der Untersuchung bei einem Neurologen erhielt ich die Diagnose MS
Mit 24 Jahren habe ich meinen ersten Mann geheiratet, den Kurt. Nach der Geburt unserer zweiten Tochter ist die Krankheit MS, die ich sicher schon als Kind in mir getragen hatte, vollends ausgebrochen. Ich befand mich in einem miserablen Zustand. Meine Hände waren vollkommen kraftlos, so dass ich es wochenlang nicht schaffte, mein Baby zu baden – aus lauter Angst, es würde untertauchen und ich wäre nicht imstande, es zu retten. Mein Mann und meine Schwiegermutter, die von Anfang an gegen mich war, meinten beide, ich spinne. Und ich glaubte das langsam selbst.
Erst nach dem Besuch bei einem Neurologen erhielt ich die Diagnose MS. Ich hatte noch nie zuvor von dieser Krankheit gehört. Sie tritt in Schüben auf, ohne Vorwarnung, und eine Zeitlang sass ich im Rollstuhl. Auch wurde ich kurzfristig blind, mal auf dem einen, dann auf dem anderen Auge. – Als meine Schwiegermutter von der Diagnose erfuhr, war sie ausser sich. «Du hast meinen Kurt reingelegt», schrie sie, «du hast das sicher schon früher gewusst!» Dabei hatte ich den Namen der Krankheit eben erst selbst erfahren. 

Meine jüngere Tochter hat ebenfalls MS
Als meine jüngere Tochter noch ein Kind war, sagte sie, dass es ihr so leidtut, dass ich ihretwegen MS habe. Sie hat tatsächlich geglaubt, sie sei der Grund für meine Krankheit. Ich habe ihr erklärt, dass das nicht stimmt, sondern dass diese Krankheit in einem Menschen drin schlummern kann, für lange Zeit, und dann plötzlich ausbricht. So wie bei mir, als ich ein Kind war und auf einmal nicht mehr laufen konnte. Nur dass es damals diese Diagnose noch nicht gab. – Die Ironie des Schicksals will es, dass meine jüngere Tochter nun ebenfalls MS hat, noch dazu eine schwerere Form, als ich sie habe. Das macht mich oft sehr traurig.

Dich chömer da nüme bruche
Als ich damals die Diagnose MS erhielt, war es der Auftakt zu einer düsteren und schwierigen Zeit in meinem Leben, ich mag gar nicht mehr daran denken. Kurt verliess mich wegen meiner Krankheit. Als meine Töchter vierzehn und zwölf Jahre alt waren, sagte er zu mir: «Dich chömer da nüme bruche.» Damit hat er mir den Laufpass gegeben. 
Ich zog dann in eine kleine Wohnung nach Winterthur. Mein Selbstwertgefühl war auf dem Nullpunkt und ich fühlte mich wie ein Häuflein Elend. In jener Zeit hat mir die MS-Gesellschaft sehr geholfen. Ich bin in einer lokalen Gruppe aufgenommen worden und konnte Kurse besuchen, die mich interessierten. So beschäftige ich mich mit Yoga und Achtsamkeitsübungen sowie der Feldenkrais-Methode. Am wertvollsten jedoch war für mich der Kontakt mit anderen Menschen, die MS hatten. Ich fühlte mich auf einmal zugehörig und nicht mehr ausgegrenzt. So habe ich mich langsam erholt, seelisch und körperlich. Ich war nicht mehr auf den Rollstuhl angewiesen und konnte mit einem Stock gehen. Und irgendwann kam auch die Lebensfreude zurück. 

Auf einem Carausflug lernte ich meinen zweiten Mann kennen
Vom Behindertenturnen her kannte ich eine Kollegin, die oft Carausflüge unternommen hat. Einmal fragte sie mich, ob ich sie begleiten möchte – und so lernte ich Bruno kennen, meinen zweiten Mann. Er war der Chauffeur des Carunternehmens, ein attraktiver, einige Jahre jüngerer Mann als ich. Wir Frauen hatten alle ein Auge auf ihn geworfen. Dass er dann von allen Frauen, auch von den gesunden, die er hätte haben können, ausgerechnet mich ausgewählt hat, konnte ich lange Zeit kaum glauben. Doch es war wahr und mit Bruno erlebte ich eine tiefe Liebe, für die ich heute noch dankbar bin. 
Sieben wunderbare Jahre waren uns vergönnt. Wenn er arbeitete, durfte ich oft mitfahren, und so sind wir zusammen nach Budapest gereist, nach Paris und in viele andere europäische Städte. Das war eine sehr glückliche Zeit damals. Bruno starb an einem Hirntumor, als ich 52 Jahre alt war. Kurz vor seiner Operation haben wir noch geheiratet. Nach seinem Tod wollte ich nicht mehr weiterleben. Es war, als sei alles Licht verschwunden. Ich bin dann in Therapie gegangen, jahrelang, und das hat mir geholfen. Ich lernte, einen neuen Blick auf alles zu entwickeln, einen milderen Blick, vielleicht. Oft habe ich auch an meine Mutter gedacht, die immer wieder aufgestanden ist und weitergemacht hat, lachend und pfeifend, und diese Erinnerung hat mir geholfen, Kraft zu schöpfen.

Vor zwei Jahren sind wir gemeinsam ins Altersheim eingetreten
2008 habe ich wieder einen lieben Partner gefunden, mit dem ich bis heute zusammen bin. Er ist mein Anker und der wichtigste Mensch in meinem Leben. Vor zwei Jahren sind wir gemeinsam ins Altersheim eingetreten. Bei ihm war es eine klare Entscheidung, für mich ging alles zu schnell damals. Doch mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und bin gerne hier. Wir wohnen auf demselben Stockwerk und anfänglich wollten wir unbedingt ein Zweierzimmer. Doch das hat nicht geklappt und jetzt sind wir beide froh darüber. Er ist ein Frühaufsteher, während ich eine Nachteule bin. Nun kann jeder nach seinem Rhythmus leben, und das ist gut so. Körperlich geht es mir besser als früher. Nebst der Schulmedizin helfen mir auch homöopathische Präparate; Chemie möchte ich so wenig wie möglich schlucken. Ich brauche keinen Rollstuhl, sondern bin viel mit dem Rollator unterwegs. Auch den Weg in die Stadt, mit dem Bus, kann ich gut allein bewältigen, da bin ich sehr froh darüber. 

Ich chriide niemertem öpis aa
In meinem Leben habe ich von allem gehabt, vom Guten wie vom Schlechten. Ich habe mir angewöhnt, in allem das Gute zu sehen. Das war ein langer Lernprozess. «Ich chriide niemertem öpis aa», weder meinem Vater noch meinem Exmann Kurt. In meinem Herzen fühle ich mich versöhnt mit ihnen. Ich habe auch gelernt, mir selbst gut zuzureden, mit mir selbst zu sprechen wie mit einer lieben Freundin. «Chum Claire, stahn uf», sage ich am Morgen jeweils zu mir, «es gaht eus doch guet.»

Das Einhornbild wurde für sie gemalen.
Es beinhaltet die Bedeutung ihres Namens.

Nach dem Tod ihrer Katze "Zoro" hat sie sich dieses Plüschtier gekauft.

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden