Dass ich einmal so alt werden darf, hätte ich nie gedacht
Bei mir ist aufs Alter hin vieles besser geworden, auch meine Gesundheit. So laufe ich immer noch ohne Rollator herum, fahre Bus und besuche Freunde. Die Wanderstöcke, die ich mir mal zugelegt hatte, lagern im Schrank. Ich kriegte Schulterschmerzen, als ich sie ausprobiert habe. Ich bin jetzt 89 Jahre alt und dass ich einmal so alt werden darf, hätte ich nie gedacht. Als ich in der dritten Klasse war, kriegte ich Diphtherie und musste für zwei Wochen ins Spital. Durch diese Krankheit blieb mein Herz klein und ist kaum mehr gewachsen. Schon geringe Anstrengungen konnten mir deshalb Mühe bereiten, und ich wurde in der Schule von etlichen Fächern und Aktivitäten dispensiert, welche ich gerne besucht hätte, wie Turnen, Singen und Schulreisen.
Ein neuer Rock empfand ich als gutes Omen
Als Kind habe ich oft gedacht, dass ich wahrscheinlich nicht lange leben darf. Deshalb war ich jedes Mal erleichtert, wenn meine Mutter mir einen neuen Rock kaufte. Ich empfand das als ein gutes Omen, dass mir noch etwas Zeit blieb – sonst würde meine Mutter mir wohl keinen neuen Rock kaufen, oder?
Es ist nicht einfach, wenn man sich als Kind dauernd schonen muss. Auch Vorfreuden machten mir Probleme. Wenn mir etwas Schönes bevorstand, wurde mir vor lauter Aufregung so übel, dass ich das Schöne oft gar nicht erleben konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mutter mit mir einen Carausflug plante und ich mich wahnsinnig freute. Als wir dann bei den Archhöfen vor dem Bus standen, wurde mir so schlecht, dass ich nicht einsteigen konnte. Wir sind dann wieder nach Hause gegangen. Später nahm ich vor jedem schönen Ereignis, vor einem Ausflug, einem Konzert oder Ferien, jeweils eine Beruhigungstablette, das hat mir geholfen.
Zum Glück hatte ich sehr liebe und verständnisvolle Eltern. Meine Mutter war immer zuhause, wenn meine zwei älteren Brüder oder ich von der Schule heimkamen. Das hat so etwas tröstliches: zu wissen, dass zuhause eine Mutter auf einen wartet.
Wir sind an der St. Gallerstrasse aufgewachsen. Mein ältester Bruder ist später nach Chur gezogen, der Zweitälteste blieb, wie ich, in Winterthur. Mein Vater hat bei «Schröckel» als Maler gearbeitet und sich anschliessend selbstständig gemacht.
Ich wohnte bei meinen Eltern, bis ich 46 Jahre alt war
Ich hätte gerne eigene Kinder gehabt, doch es hat sich nicht ergeben. Wohl habe ich Männer kennengelernt, aber um zusammen zu leben und eine Familie zu gründen, dazu hat es nicht gereicht. Und eine Heirat ohne wirkliche Liebe, damit ich Kinder bekommen konnte - nein, das wollte ich nicht. Ich wohnte bei meinen Eltern, bis ich 46 Jahre alt war. Es hat sich einfach so ergeben. Ausserdem bin ich ein Mensch, der keine Veränderungen mag. Ich liebe Überschaubarkeit und Sicherheit, damit fühle ich mich zufrieden. Als meine Mutter starb, bin ich bei meinem Vater geblieben. Einige Jahre später ist er ebenfalls verstorben. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Mein Vater war zur Kur in Dussnang und ist von dort wegen eines angeblichen Herzinfarkts ins Spital eingeliefert worden. Mein Bruder und ich sassen bei ihm am Krankenbett. Während unser Vater geredet hat und Pläne schmiedete für nächstes Jahr, wurde er immer müder und ist innert kurzer Zeit verstorben. Später fand man heraus, dass eine Aorta geplatzt war und er innerlich verblutet ist.
Ich dachte viel über den Tod nach
Dieses Erlebnis hat mich lange Zeit beschäftigt und ich dachte viel über den Tod nach. Ich hatte Mühe, einen Verstorbenen ansehen zu müssen, geschweige denn, ihn zu berühren. Jahre später hatte ich wieder mal mit meinem Bruder abgemacht, der in der Zwischenzeit in einem Altersheim in Wülflingen lebte. Als ich vor seiner Zimmertüre stand, klopfte ich wie jedes Mal kurz an und trat ein. Mein Bruder aber war in der Zwischenzeit verstorben und das Personal konnte mich nicht erreichen. Er lag bereits aufgebahrt auf seinem Bett, die Hände über der Brust gefaltet. Ich stand wie erstarrt - einerseits wäre ich am liebsten davongelaufen, andererseits wollte ich meinen Bruder noch einmal betrachten. Wenn ich mal sterbe, dachte ich, möchte ich ja auch nicht, dass andere davonrennen. Ich bin dann langsam zu ihm gegangen und habe seine Hände berührt, welche ganz kalt waren, es hat mich allen Mut gekostet. Aber es war gut für mich, seither habe ich kaum mehr Angst vor dem Tod.
Alles, was mit Zahlen und Mathematik zu tun hat, liebe ich
Ich habe mein ganzes Leben lang bei der «Winterthur Versicherung» gearbeitet, der heutigen AXA. 42 Jahre lang, dreissig davon in derselben Abteilung. Wie gesagt, ich mag keine Veränderungen. Als ich mich als junge Frau dort bewarb, hatte ich weder eine Berufslehre noch einen kaufmännischen Abschluss vorzuweisen, nur das obligatorische Haushaltsjahr. Die geplante Ausbildung an der Handelsschule musste ich nach einem Jahr wegen meiner Herzkrankheit abbrechen. Doch ich bin ein Zahlenmensch und liebe alles, was mit Rechnen und Mathematik zu tun hat. So habe ich mich hochgearbeitet: von der Administration bis zur Prämienabrechnung. Früher war es noch möglich, ohne Abschluss eine gute Position zu erreichen. Heute braucht es für alles ein Diplom, dabei sind Freude und Fleiss noch immer die wichtigsten beruflichen Grundlagen.
Vor vielen Jahre habe ich noch eine späte Liebe gefunden
Dieser Mann und ich sind zwar nicht zusammengezogen, aber wir haben viel miteinander unternommen, Ausflüge, Wanderungen und Jassen. Von seiner Familie bin ich sehr liebevoll aufgenommen worden. Das war eine schöne Zeit, damals, und sie hat erst mit seinem Tod geendet.
Auf meinen täglichen Spaziergängen sammle ich Föhrenzapfen
Mir ist es wichtig, körperlich so lange wie möglich fit zu bleiben. Deshalb bin ich oft zu Fuss unterwegs. Mein tägliches Training besteht auch im Treppenlaufen, 48 Stufen runter und wieder rauf. Ausserdem sammle ich «Forigeli» auf meinen täglichen Spaziergängen, es ist eine richtige Sucht. Sobald ich einen Föhrenzapfen sehe, muss ich mich bücken und ihn einsammeln. Ich habe schon säckeweise gesammelt und kann fast nicht aufhören damit, obwohl mir das Bücken immer mehr Mühe bereitet. Hin und wieder kommt meine Nichte vorbei und holt die vollen Säcke. Sie hat Abnehmerinnen dafür, unter anderem ein Blumengeschäft. Föhrenzapfen eignen sich ausgezeichnet als Dekoration.