1937 sind meine Eltern mit vier kleinen Kindern aus dem Aargau nach Argentinien ausgewandert. Sie hatten im Grunde keine Ahnung, worauf sie sich einliessen und wohin genau es sie verschlagen würde – und spanisch sprachen sie auch nicht. Meine Mutter war eine Bauerntochter und mein Vater Obermelker. Ich bewundere sie noch heute und habe grossen Respekt vor diesem mutigen Schritt, den sie damals getan haben. Es blieb ihnen allerdings nicht viel anderes übrig als auszuwandern, wenn sie ihre Familie ernähren wollten. Damals, in den Dreissiger-Jahren, gab es in der Schweiz viele Arbeitslose und arme Leute. Deshalb hat der Bund Werbung für die Auswanderung gemacht und alle, die dazu bereit waren, sind tatkräftig unterstützt worden. Die Auswanderer konnten sich damals zwischen Argentinien oder Kanada entscheiden. Meine Eltern haben Lichtbild-Vorträge besucht zum jeweiligen Land, und mein Vater erzählte uns, dass er am Informationsabend über Kanada erfrorene Hühner gesehen habe, die völlig vereist noch immer auf der Stange sassen. Somit sei ihnen die Entscheidung zugunsten von Argentinien leichtgefallen. Uns wurde die Überfahrt bezahlt und wir bekamen ein 25 Hektar grosses Stück Land, im Norden von Argentinien.
Die Überfahrt allein hat fast drei Wochen gedauert. Als wir nach langer Reise endlich auf unserem Stück Land ankamen, gab es da nichts als Dschungel. Auf diesem abgelegenen Fleck Erde haben nur Auswanderer gewohnt, Schweizer und Deutsche. Diese Gemeinschaft war wie eine Familie. Alle haben sich gegenseitig geholfen. Zusammen haben wir das Land gerodet, nach Wasser gebohrt, ein Haus gebaut und einen Brunnen. Die Hilfsbereitschaft untereinander war immens; wir wären verloren gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung der Anderen. Ich weiss noch, dass damals in jeder Stube der deutschen Auswanderer ein Bild von Hitler hing. Darunter stand: «Wir werden siegen»! Das war alles noch vor dem 2. Weltkrieg. Wir haben nicht viel mitgekriegt, was zu jener Zeit passiert ist auf der Welt, es gab weder Radio noch Fernsehen.
Meine Eltern wollten ursprünglich Mate anbauen, das traditionelle Teegewächs der Argentinier, auch grünes Gold genannt. Doch ausgerechnet dann, als die 25 Hektaren fertig gerodet waren, wurde der Anbau von Mate verboten – es sollte keine Überproduktion entstehen. Also haben sie sich für Tabak entschieden, da das dortige Klima für diese Pflanze ideal ist.
In der Schule wurde nur spanisch gesprochen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einfach dort gesessen bin und kein Wort verstanden habe. Meine Lehrerin merkte aber schnell, wie geschickt ich in Handarbeit war und wie gerne ich strickte, und so durfte ich während des Unterrichts immer lismen. Ich habe «Babyschlüttlis» gestrickt und Söckchen und kleine Käppchen - alles für meine Lehrerin, welche schwanger war. Diese stete Beschäftigung mit den Händen während des Unterrichts hat mir sehr geholfen, die fremde Sprache zu erlernen. Wie ein Schwamm habe ich alles um mich herum aufgesogen und konnte in meinem eigenen Rhythmus lernen, im Takt der klappernden Stricknadeln. Noch heute spreche ich fliessend spanisch, ich liebe diese Sprache.
Mit 17 Jahren kam ich als Gesellschafterin zu einer älteren Dame. Sie lebte als Schweizerin ebenfalls in einer Auswandererkolonie, jedoch einer sehr viel reicheren als wir es waren. Jener Frau Roth habe ich viel zu verdanken. Als sie sah, dass ich geschickte Hände habe und gerne mit Stoff hantiere, meldete sie mich zu einen Fernlehrgang als Schneiderin an. Auf diese Weise durfte ich eine Lehre machen und habe nun ein Diplom als «professora de corte y confectiòn».
Mit 21 Jahren bin ich in die Schweiz zurückgekehrt, zusammen mit meiner jüngeren Schwester. Ich litt an chronischer Sinusitis und das Klima hier sollte mir helfen, wieder gesund zu werden. Ausserdem hatte ich eine Stelle als Schneiderin gefunden. Fürs erste kamen wir bei einer Tante unter. Wir besassen jedoch nur eine Rückfahrkarte - und bald kriegte meine Schwester so starkes Heimweh nach Argentinien, dass sie das nächste Schiff Richtung Südamerika bestieg. - Da fühlte ich mich doch ziemlich verlassen in meinem Heimatland, das mir fremd war. Doch bald darauf ist auch mein Bruder in die Schweiz zurückgekehrt. Er wollte die RS absolvieren, zusammen mit einem anderen jungen Schweizer. Weil sie kein Geld besassen, haben sie sich die Überfahrt verdient, indem sie auf einem Viehtransporter anheuerten! Man stelle sich das vor - zwei Wochen auf hoher See Rinder füttern und ausmisten! Und kaum eine Möglichkeit, sich zu duschen… Jedenfalls sind sie in Zürich, kaum aus dem Zug gestiegen, sofort verhaftet worden! Sie sahen aus wie Gauchos, was sie ja auch waren, mit ihren hohen Lederstiefeln und den verwilderten Mähnen - und nicht wie zukünftige Rekruten.
Zuhause in Argentinien hatte ich einen Brieffreund aus der Schweiz, den Kurt, welchen ich über meinen Bruder kennengelernt habe. Auf meinen ersten Brief hin antwortete er kurz und bündig: «Liebe Huldi, schreib’ bald wieder»! Besagten Kurt Wagner habe ich dann getroffen, als ich in die Schweiz kam - und wir sind zusammengeblieben, bis zum heutigen Tag! Siebzig Jahre ist das jetzt seither…
Die Sehnsucht nach Südamerika hat mich nie ganz verlassen, und als ich die Chance sah, dorthin zurückzukehren, habe ich sie gleich ergriffen. Mein Mann, der als Sanitärinstallateur arbeitete, las eines Tages ein Stelleninserat, in welchem ein Haustechniker gesucht wurde für eine Grossbaustelle in Venezuela. Er erzählte mir davon und ich sagte nur: «Was zögerst du noch, da müssen wir zugreifen»! Mein Mann ist wenig später nach Caracas geflogen. Er hatte drei Monate Probezeit und nach wenigen Wochen telefonierte er mir und sagte, ich solle bald nachkommen. Kurz darauf bin ich aufs Schiff gestiegen, zusammen mit meiner damals 2-jährigen Tochter Carmen. In Venezuela wurde unser Sohn Manuel geboren. Später, zurück in der Schweiz, kam noch Rafael dazu.
Die Zeit in Venezuela war sicher eine der schönsten unseres Lebens. Fast fünf Jahre lang haben wir dort gelebt, in einem Haus direkt am Meer, in der Karibik, mit Briten, Amerikanern und Schweden zusammen. Ich lernte Bridge spielen – unter Palmen; und für den 1. August schneiderte ich eine Schweizer Fahne, die später am Strand wehte. Bis zum heutigen Tag macht mein Mann noch immer den besten cuba libre weit und breit, er ist «jefe de la cuba libre».
Hier im Altersheim wohnen wir erst seit 6 Monaten, wir sind immer noch in der Eingewöhnungsphase. Vorher lebten wir noch zwanzig Jahre lang in Montagnola im Tessin.
Das Besuchsverbot während der Coronazeit haben wir elegant gelöst; unsere drei Kinder standen jeweils im Hof unter dem Balkon; wir haben uns via Handy ausgetauscht und konnten uns dabei sehen und zuwinken. Das war ja irgendwie auch lustig. Zum Glück haben mein Mann und ich einander. So mussten wir uns nicht einsam fühlen. Im kommenden Jahr werde ich 92 Jahre alt, und mein Mann 90. Doch das ist nur eine Zahl, wir fühlen uns längst nicht so alt.
Aufgezeichnet am 16.09.2020 von Maja Friolet Dahinden