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«Bei mir ist aufs Alter hin vieles besser geworden, auch meine Gesundheit.»

Frau R. Traxler

«Seit mehr als drei Jahren wohne ich nun im Altersheim St. Urban - und habe meinen Umzug keinen Tag bereut! Mein Rat an alle ist: Göhnd nid z'spat is Altersheim. Gönd solang ihrs chönd - es isch schön da!»

Mir war es wichtig, freiwillig und aus eigener Entscheidung heraus ins Altersheim zu ziehen, solange es mir relativ gut geht. Ich wollte nicht irgendwann zwangsläufig einziehen müssen. Diesen Entschluss habe ich noch keinen Tag bereut. Ich traf hier sehr nette Menschen an, sowohl Angestellte wie auch Bewohner und Bewohnerinnen. Auch an unserem Esstisch sind wir eine gute Runde. Oft verabreden wir uns dort zum Jassen im Restaurant. Ich habe schon als Kind leidenschaftlich gerne gespielt: Brettspiele, Jassen und Canasta. Hier gibt es noch andere spielfreudige Frauen und ich komme voll auf meine Rechnung. Unter anderem jasse ich mit einer fast hundertjährigen Frau, die sehr gerissen spielt. Ich geniesse sowohl das gesellige Beisammensein als auch die Ruhe im eigenen Zimmer. Das Essen hier schmeckt mir gut und ich liebe es, mich einfach hinsetzen zu dürfen und zu geniessen. Ich habe selbst nie gerne gekocht, drum ist meine Freude doppelt. Ich versuche stets, überall das Gute zu sehen. Die eigene Einstellung ist so wichtig, denn die kann man kontrollieren. 

Das Bild hat sie im St. Urban selber gestaltet (mit Hilfe der Mitarbeiterin).

Dass ich einmal so alt werden darf, hätte ich nie gedacht
Bei mir ist aufs Alter hin vieles besser geworden, auch meine Gesundheit. So laufe ich immer noch ohne Rollator herum, fahre Bus und besuche Freunde. Die Wanderstöcke, die ich mir mal zugelegt hatte, lagern im Schrank. Ich kriegte Schulterschmerzen, als ich sie ausprobiert habe. Ich bin jetzt 89 Jahre alt und dass ich einmal so alt werden darf, hätte ich nie gedacht. Als ich in der dritten Klasse war, kriegte ich Diphtherie und musste für zwei Wochen ins Spital. Durch diese Krankheit blieb mein Herz klein und ist kaum mehr gewachsen. Schon geringe Anstrengungen konnten mir deshalb Mühe bereiten, und ich wurde in der Schule von etlichen Fächern und Aktivitäten dispensiert, welche ich gerne besucht hätte, wie Turnen, Singen und Schulreisen. 

Ein neuer Rock empfand ich als gutes Omen
Als Kind habe ich oft gedacht, dass ich wahrscheinlich nicht lange leben darf. Deshalb war ich jedes Mal erleichtert, wenn meine Mutter mir einen neuen Rock kaufte. Ich empfand das als ein gutes Omen, dass mir noch etwas Zeit blieb – sonst würde meine Mutter mir wohl keinen neuen Rock kaufen, oder?

Es ist nicht einfach, wenn man sich als Kind dauernd schonen muss. Auch Vorfreuden machten mir Probleme. Wenn mir etwas Schönes bevorstand, wurde mir vor lauter Aufregung so übel, dass ich das Schöne oft gar nicht erleben konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mutter mit mir einen Carausflug plante und ich mich wahnsinnig freute. Als wir dann bei den Archhöfen vor dem Bus standen, wurde mir so schlecht, dass ich nicht einsteigen konnte. Wir sind dann wieder nach Hause gegangen. Später nahm ich vor jedem schönen Ereignis, vor einem Ausflug, einem Konzert oder Ferien, jeweils eine Beruhigungstablette, das hat mir geholfen.

Zum Glück hatte ich sehr liebe und verständnisvolle Eltern. Meine Mutter war immer zuhause, wenn meine zwei älteren Brüder oder ich von der Schule heimkamen. Das hat so etwas tröstliches: zu wissen, dass zuhause eine Mutter auf einen wartet. 
Wir sind an der St. Gallerstrasse aufgewachsen. Mein ältester Bruder ist später nach Chur gezogen, der Zweitälteste blieb, wie ich, in Winterthur. Mein Vater hat bei «Schröckel» als Maler gearbeitet und sich anschliessend selbstständig gemacht. 

Ich wohnte bei meinen Eltern, bis ich 46 Jahre alt war
Ich hätte gerne eigene Kinder gehabt, doch es hat sich nicht ergeben. Wohl habe ich Männer kennengelernt, aber um zusammen zu leben und eine Familie zu gründen, dazu hat es nicht gereicht. Und eine Heirat ohne wirkliche Liebe, damit ich Kinder bekommen konnte - nein, das wollte ich nicht. Ich wohnte bei meinen Eltern, bis ich 46 Jahre alt war. Es hat sich einfach so ergeben. Ausserdem bin ich ein Mensch, der keine Veränderungen mag. Ich liebe Überschaubarkeit und Sicherheit, damit fühle ich mich zufrieden. Als meine Mutter starb, bin ich bei meinem Vater geblieben. Einige Jahre später ist er ebenfalls verstorben. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Mein Vater war zur Kur in Dussnang und ist von dort wegen eines angeblichen Herzinfarkts ins Spital eingeliefert worden. Mein Bruder und ich sassen bei ihm am Krankenbett. Während unser Vater geredet hat und Pläne schmiedete für nächstes Jahr, wurde er immer müder und ist innert kurzer Zeit verstorben. Später fand man heraus, dass eine Aorta geplatzt war und er innerlich verblutet ist. 

Ich dachte viel über den Tod nach
Dieses Erlebnis hat mich lange Zeit beschäftigt und ich dachte viel über den Tod nach. Ich hatte Mühe, einen Verstorbenen ansehen zu müssen, geschweige denn, ihn zu berühren. Jahre später hatte ich wieder mal mit meinem Bruder abgemacht, der in der Zwischenzeit in einem Altersheim in Wülflingen lebte. Als ich vor seiner Zimmertüre stand, klopfte ich wie jedes Mal kurz an und trat ein. Mein Bruder aber war in der Zwischenzeit verstorben und das Personal konnte mich nicht erreichen. Er lag bereits aufgebahrt auf seinem Bett, die Hände über der Brust gefaltet. Ich stand wie erstarrt - einerseits wäre ich am liebsten davongelaufen, andererseits wollte ich meinen Bruder noch einmal betrachten. Wenn ich mal sterbe, dachte ich, möchte ich ja auch nicht, dass andere davonrennen. Ich bin dann langsam zu ihm gegangen und habe seine Hände berührt, welche ganz kalt waren, es hat mich allen Mut gekostet. Aber es war gut für mich, seither habe ich kaum mehr Angst vor dem Tod.

Alles, was mit Zahlen und Mathematik zu tun hat, liebe ich
Ich habe mein ganzes Leben lang bei der «Winterthur Versicherung» gearbeitet, der heutigen AXA. 42 Jahre lang, dreissig davon in derselben Abteilung. Wie gesagt, ich mag keine Veränderungen. Als ich mich als junge Frau dort bewarb, hatte ich weder eine Berufslehre noch einen kaufmännischen Abschluss vorzuweisen, nur das obligatorische Haushaltsjahr. Die geplante Ausbildung an der Handelsschule musste ich nach einem Jahr wegen meiner Herzkrankheit abbrechen. Doch ich bin ein Zahlenmensch und liebe alles, was mit Rechnen und Mathematik zu tun hat. So habe ich mich hochgearbeitet: von der Administration bis zur Prämienabrechnung. Früher war es noch möglich, ohne Abschluss eine gute Position zu erreichen. Heute braucht es für alles ein Diplom, dabei sind Freude und Fleiss noch immer die wichtigsten beruflichen Grundlagen.

Vor vielen Jahre habe ich noch eine späte Liebe gefunden
Dieser Mann und ich sind zwar nicht zusammengezogen, aber wir haben viel miteinander unternommen, Ausflüge, Wanderungen und Jassen. Von seiner Familie bin ich sehr liebevoll aufgenommen worden. Das war eine schöne Zeit, damals, und sie hat erst mit seinem Tod geendet.

Auf meinen täglichen Spaziergängen sammle ich Föhrenzapfen 
Mir ist es wichtig, körperlich so lange wie möglich fit zu bleiben. Deshalb bin ich oft zu Fuss unterwegs. Mein tägliches Training besteht auch im Treppenlaufen, 48 Stufen runter und wieder rauf. Ausserdem sammle ich «Forigeli» auf meinen täglichen Spaziergängen, es ist eine richtige Sucht. Sobald ich einen Föhrenzapfen sehe, muss ich mich bücken und ihn einsammeln. Ich habe schon säckeweise gesammelt und kann fast nicht aufhören damit, obwohl mir das Bücken immer mehr Mühe bereitet. Hin und wieder kommt meine Nichte vorbei und holt die vollen Säcke. Sie hat Abnehmerinnen dafür, unter anderem ein Blumengeschäft. Föhrenzapfen eignen sich ausgezeichnet als Dekoration.  

Ich bin zufrieden mit meinem Leben, manchmal sogar sehr. Trotz einer lieben Nichte und eines lieben Neffen samt Familien vermisse ich manchmal meine Eltern, meine Brüder und meine Schwägerin. Ich bin die letzte von allen, die noch lebt. Doch in meiner Erinnerung sind sie stets bei mir. So bin ich nie allein. 

Das Hundekissen ist ein Geschenk von ihrem „Lieblingshund“.
Ab und zu kuschelt sie das Kissen wenn der Hund länger nicht
zu Besuch war und sie das kuscheln mit ihm vermisst.

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden