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«Du musst das tun, was deine Freude wachsen lässt.»

Frau H. Pfister

Ich bin eine richtige «Gwundertante». Das war ich schon als Kind und bin es immer noch. Mich interessiert einfach alles, was in der Welt und um mich herum passiert - und ich lerne gerne Neues hinzu, sei es über Bücher, Vorträge oder Gespräche.

Ich denke, ich bin ein sehr flexibler Mensch. Altes loszulassen und mit Veränderungen im Leben umzugehen fällt mir nicht schwer. Ich sehe in allem, was mir begegnet, das Gute, und an diesem Guten habe ich meine Freude. Dies ist eine Einstellung, die man lernen kann. Ich habe sie mir fest ins Herz geprägt.

Geboren bin ich 1926 in Steckborn. Mein Vater betrieb eine Schreinerei und wir wohnten in einem grossen Haus, welches früher mal ein Restaurant war. Dort gab es ein Mädchenzimmer und ein ebensolches für die Buben. Wir waren sechs Geschwister: drei Mädchen und drei Buben.

Wobei drei meiner Geschwister eigentlich Stiefgeschwister waren. Sie stammten von der ersten Frau meines Vaters, welche früh an der Spanischen Grippe verstarb. Meine Mutter war die zweite Frau meines Vaters und hat mit der Heirat auch drei kleine Kinder übernommen - und dann selbst noch drei gekriegt. «Die erste Frau eures Vaters war bildschön, ganz im Gegensatz zu mir», pflegte meine Mutter jeweils zu sagen und hat gelacht dabei. - Sie war ein besonderer Mensch, meine Mutter. Ich habe sie stets heiter und fröhlich erlebt, nie kam ein böses Wort über ihre Lippen.

Als Kinder kannten wir fast keine freie Zeit. Wir halfen mit, wo wir konnten. An Samstagen putzten wir die Werkstatt und das Maschinenhaus. Wir polierten Stühle, Tische und Kleinmöbel in der Schreinerei. Das dauerte bis um vier Uhr nachmittags. Dann kam, im Sommer jedenfalls, der Höhepunkt der Woche, das Bad im See.

Meine Mutter gab uns Seife und Badetücher mit, denn damals gab es bereits warmes Wasser in den Duschen beim Strandbad.

Mein Vater war im Dorf sehr angesehen, er wurde in sämtliche Behörden gewählt, sass im Gemeinderat, in der Kirchgemeinde und noch in weiteren Gremien. Wir waren so stolz auf ihn. Ich erinnere mich gut an die Fronleichnam–Prozessionen; mein Vater im feinen schwarzen Anzug mit Zylinder – wir Kinder haben ihn angehimmelt. Ich glaube, damals entstand mein Wunsch, Damenschneiderin zu werden. Ich liebe feine Stoffe und Mode, und dank meiner Mutter konnte ich diesen Beruf erlernen. Das war zur damaligen Zeit nicht selbstverständlich. Die meisten Mädchen, die ich kannte, durften keinen Beruf erlernen; sie würden ja eh’ heiraten, hiess es, und eine Lehre zu absolvieren sei eine Verschwendung von Zeit und Geld.

Meine Mutter jedoch wollte, dass ich eine Lehre mache und fragte die einzige Damenschneiderin im Dorf an, ob sie nicht eine Lehrstelle für mich schaffen könnte. Was sie dann auch tat, zu meinem Glück.

Nach meinem Lehrabschluss habe ich noch ein Jahr lang in St. Moritz bei einer Haute-Couture Schneiderin gearbeitet. - Ich liebte meinen Beruf.

Noch mehr aber liebte ich Kinder. Das habe ich gemerkt, als ich mit 15 Jahren ins Baselbiet zu einer Bauernfamilie kam. Sie waren wohlhabend, fast schon vornehm - so, dass der Bauer manchmal sogar zum Melken eine Kravatte trug.

Damals mussten alle Mädchen für ein Jahr «in die Fremde gehen», das war einfach so Brauch. Ich erinnere mich gut an die Kirschenernte. Viele Tage verbrachte ich hoch in den Bäumen. Aber noch besser erinnere ich mich an die drei kleinen Kinder, welche ich betreuen durfte und an die Freude, die ich dabei empfand. Eigene Kinder zu haben ist sicher das Schönste im Leben, habe ich damals gedacht – und denke es heute noch.

Ich hatte Glück und wurde Mutter von ebenfalls drei Kindern, einem Jungen und zwei Mädchen. Nun habe ich auch noch sechs Enkel und vier Urenkel.

Meinen Mann habe ich im Café meiner Schwägerin in Uster kennengelernt.  Er war ein gebürtiger Bündner und Geschäftsführer eines Herrenbekleidungsgeschäfts in Winterthur. Wir teilten deshalb gleich zu Beginn ein gemeinsames Interesse, Schnittmuster und Nähen;  Gesprächs-«stoff» sozusagen.

Leider ist er früh verstorben. Ich habe danach weit über dreissig Jahre allein gelebt.

Zu meiner eigentlichen Berufung bin ich gekommen, als ich schon über 50 Jahre alt war. Da fragte mich der Pfarrer der Herz-Jesu Gemeinde, ob ich den Kindern Religionsunterricht geben könnte. Ich war ziemlich überrascht und sagte ihm, dass ich keinerlei Erfahrung im Lehren und Unterrichten hätte. Er meinte: «Mit Liebe schafft man alles. Sie können gut mit Kindern umgehen und haben Freude an ihnen, das ist das Wichtigste.»

Ich habe zugesagt und anschliessend ein Jahr lang ein theologisches Praktikum im Kloster Ingenbohl absolviert und ebenfalls ein Bibelseminar in Winterthur. So habe ich begonnen, «Unti» zu geben.

Ich tat dies mehr als 20 Jahre lang, bis ich weit über Siebzig war. Diese Arbeit hat mich erfüllt und glücklich gemacht. Mein Mann hat anfänglich noch gelebt und mich sehr unterstützt in diesem neuen Abschnitt. «Du musst das tun, was deine Freude wachsen lässt», sagte er immer.

Mich viel zu bewegen lässt meine Freude ebenfalls wachsen. Ich bin sehr gerne draussen unterwegs und laufe viel, meistens zwei Stunden täglich - eine am Morgen, eine am Nachmittag. Das tut mir gut und ich brauche das.

Vor einigen Jahren konnte ich fast nicht mehr gehen. Ich hatte so starke Rückenschmerzen, dass jeder Schritt eine Qual war. Die beste Lösung wäre eine Operation gewesen, bei der ein Teil der unteren Wirbelsäule versteift wird. Der Spezialist im Kantonsspital weigerte sich jedoch vorerst, einen solchen Eingriff bei mir durchzuführen. Er meinte, er könne es nicht riskieren, jemanden am Rücken zu operieren, der über neunzig Jahre alt sei. Ich blieb hartnäckig und sagte ihm, wieviel mir diese OP bedeute und dass ich zu hundert Prozent die Verantwortung übernehme, falls etwas schiefgehe. Denn, so Gott will, dürfe ich vielleicht noch einige Jahre auf dieser Erde wandeln – und eben dies, das wandeln, das laufen, sei mein Lebenselixier. Meine Hausärztin hat mich dabei sehr unterstützt und schliesslich liess sich der Arzt erweichen.

Die OP ist zum Glück gelungen und nach einiger Zeit konnte ich mich wieder schmerzfrei bewegen. Dafür bin ich mehr als nur dankbar.

Ich glaube nicht, dass ich das Glück in meinem Leben auf irgendeine Art und Weise «verdient» habe - ich habe nichts dafür getan, es ist mir einfach zugefallen.

Aufgezeichnet von Maja Friolet Dahinden