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«Eine neue Beziehung wäre ich nie im Leben wieder eingegangen»

Frau S. Lieb

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann denke ich, dass ich mehr hätte machen sollen – und mutiger sein müssen, nicht so sicherheitsorientiert. Ich hatte viele gute Ideen, die ich nie verwirklicht habe. Ich hätte zum Beispiel gerne in der Entwicklungshilfe gearbeitet oder leistungsschwachen Kindern Deutschunterricht gegeben. Das hätte mir Freude bereitet, da bin ich sicher.

Ich glaube, dass es sich so verhält: Entweder man hat eine glückliche Kindheit und nachher ein schwieriges Leben, oder die Kindheit war schlimm und das Glück lacht einem dafür später. Bei mir war Ersteres der Fall. Ich verbrachte eine wunderbare Kindheit mit liebevollen Eltern. Mein Vater arbeitete hart, doch in den Ferien hat er sich immer voll und ganz der Familie und uns drei Kindern gewidmet. Oft waren wir im Tessin in den Ferien. Von diesen Erinnerungen zehre ich heute noch. Ich habe wohl einen guten Teil von dem, was mir an Glück zusteht, in meiner Kindheit und Jugend verbraucht.


Meine Ehe war alles andere als glücklich
Eine Familie und Kinder zu haben, war immer mein grösster Wunsch. Nach dem Besuch der Handelsschule und einigen Jahren im Beruf habe ich geheiratet und zwei Söhne gekriegt. Sie waren und sind ein Geschenk für mich. Meine Ehe hingegen war alles andere als glücklich. Dem Frieden zuliebe habe ich vieles geschluckt und nicht aufbegehrt. Mit 47 Jahren hatte ich dann aber genug. Ich wusste, entweder gehe ich unter oder ich beginne ein neues Leben. Ich habe mich für ein neues Leben entschieden und reichte die Scheidung ein.Nach 23 Jahren Familienpause traute ich mir beruflich nicht mehr viel zu. Am liebsten hätte ich mich bei einer Bank beworben, doch mein Selbstwertgefühl war so schwach, dass ich dachte, ich würde höchstens noch zum Auffüllen der Gestelle taugen. Die Computerisierung war ja völlig an mir vorbeigegangen. Man stelle sich vor: Als ich das letzte Mal gearbeitet hatte, wurde gerade die elektrische Schreibmaschine als grosser Fortschritt gefeiert.


Ich habe erst mit 67 aufgehört zu arbeiten
Ich nahm dann trotzdem allen Mut zusammen, holte das Telefonbuch hervor und schlug die Seite mit den Banken auf. Dann griff ich zur Stricknadel, schloss die Augen und stach wahllos in die Seite. Bei derjenigen Bank, welche die Nadel getroffen hat, habe ich mich beworben – und diese Stelle kriegte ich auch! Alles Computerwissen habe ich in Abendkursen nachgeholt. Wenn ich zurückdenke, staune ich, welch eisernen Willen ich hatte. Ich habe erst mit 67 Jahren aufgehört zu arbeiten. Nicht nur wegen des finanziellen Aspekts. Ich blühte in diesen Jahren auf, erfuhr Wertschätzung und Respekt. Das war anfänglich ganz neu für mich.Eine neue Beziehung wäre ich nie im Leben wieder eingegangen, auch wenn die Gelegenheiten da waren. Dafür ging es mir zu gut nach meiner Scheidung. Ich hatte ein neues Leben, die Zuneigung meiner Söhne und eine Katze! Was will man mehr!?


Aufgezeichnet von Maja Dahinden