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«Ich habe mein Leben den Vögeln gewidmet!»

Herr Gisler

Ich bin über 90 Jahre alt. Vor 6 Jahren hatte ich einen Hirnschlag, anschliessend musste ich alles wieder neu erlernen; sprechen, essen, laufen, mich anziehen. Das war anstrengend! Aber ich bin dankbar für die Jahre, die ich seitdem erleben durfte. Es sind geschenkte Jahre, ich hätte genauso gut tot sein können.

Was mich beschäftigt ist, dass ich langsam blind werde. Ich sehe jeden Tag ein wenig schlechter und lesen kann ich nur noch mit einer grossen Leuchtlupe. Wenn ich daran denke, wie gut ich früher sah – wie ein Adler. Und da wären wir auch schon bei den Vögeln. Vögel waren meine grosse Leidenschaft, weit mehr als nur ein Hobby. Ich habe mein Leben den Vögeln gewidmet!

Es war wie eine Sucht
Alles hat mit zwei Wellensittichen angefangen, die ich meiner Frau geschenkt habe. Um den passenden Käfig zu besorgen, bin ich mit dem Velo nach Sirnach geradelt und wieder zurück, den Käfig auf dem Gepäckträger, alles im strömenden Regen.

Diese Vögel haben mich von Anfang an total fasziniert. Kurze Zeit später kaufte ich Kanarienvögel dazu. Mit ihnen begann das Züchten, das mich 60 Jahre lang nicht mehr losgelassen hat. Es war wie eine Sucht, anders kann ich es nicht beschreiben. Einmal habe ich sogar aus Geldmangel einen Staubsauger gegen Vögel eingetauscht.


Ich bin sozusagen der Vater des roten Kanarienvogels
Irgendwann war unsere Wohnung zu klein für die vielen Vögel. Da habe ich in Oberwinterthur ein Gartenhaus gekauft und dort Volièren gebaut. Dort hielt ich zwischen 60 bis 70 verschiedene Arten. Und mit allen habe ich gezüchtet. Mutationen haben mich am meisten interessiert, spezielle Züchtungen mit artverwandten Vögeln. Ich habe zum Beispiel Kapuzenzeisige mit Kanarienvögeln gekreuzt. Die daraus entstandenen Hybriden waren zuerst nicht fruchtbar, doch irgendwann hat es auf wundersame Weise doch geklappt. Daraus ist der rote Kanarienvogel entstanden, der nun weltweit verbreitet ist. Ich bin sozusagen der Vater des roten Kanarienvogels. Darauf bin ich schon etwas stolz.

Ich habe auch einen Magellan – einen südamerikanischen Zeisig – mit einem einheimischen Distelfink gekreuzt. Herausgekommen sind kohlschwarze Vögel, die jeder haben wollte, da sie eine absolute Rarität waren.


Meine Frau hat mich in all den Jahren immer unterstützt
200 bis 300 verschiedene Kanarienvögel habe ich so gezüchtet. Sogar silberfarbene waren darunter, etwas, was es vorher noch nie gegeben hatte. Ich wurde zu vielen Ausstellungen eingeladen, in ganz Europa. Das Geld, das mir der Verkauf der Vögel einbrachte, habe ich sofort wieder in teurere Vögel investiert; zum Beispiel in ein Paar Königssittiche, welche damals 3500 Franken kosteten.

Meine Frau hat mich in all den Jahren immer unterstützt. Wir hatten vier Töchter. Bis ich 50 Jahre alt war, sind wir nie in die Ferien gefahren – es wäre auch unmöglich gewesen, mit all den Vögeln.

Ich bin ein Einzelgänger. Das Zusammensein mit meinen Vögeln hat mir mehr gebracht als das Zusammensein mit Menschen. Ich hätte auch gar keine Zeit gehabt für Vereine und andere Hobbys.

Durch die Vögel habe ich so viel gelernt. Das Grundlagenwerk meiner Züchterei war die Mendelsche Vererbungslehre – die habe ich jahrelang studiert. Als ich diese Lehre wirklich verstanden hatte, konnte ich praktisch alles züchten. Dazu muss ich sagen, dass ich auch das Futter für die Vögel selbst kultiviert habe: Maden, Grillen und Mehlwürmer. Oft war ich auch mit einem Schmetterlingsnetz auf den Feldern unterwegs und habe so Insekten eingesammelt.


Die Hütte, in der ich schlief, habe ich mir selbst gemauert
Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof im Schächental. Wir waren neun Geschwister – «zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben». Mit 13 wurde ich Laufbursche auf einer Alp. Ich war den ganzen Sommer über mit 180 Rindern allein auf einer Alp. Die Hütte, in der ich schlief, habe ich mir selbst gemauert, Steine aufeinandergeschichtet und mit Rinderkot verputzt. Hin und wieder ging ich runter ins Tal, um Milch, Butter und Brot zu holen. Ansonsten war ich immer allein. Ich habe das Wort Heimweh nicht gekannt. Wenn ich heute an jene Zeit denke, dann sehe ich dieses Bild vor mir: Wie die Sonne am Morgen langsam über die Berggipfel wandert und wie die Rinder und die Gemsen friedlich vereint das ausgestreute Salz schlecken.

Überhaupt sind meine schönsten Erinnerungen immer mit Tieren verbunden; obwohl ich gelernter Metzger war und diesen Beruf auch viele Jahre lang ausübte. Dazu muss ich aber sagen, dass man früher einfach froh war um die Gelegenheit, einen Beruf ergreifen zu können. Da ging es nicht um Spass oder Erfüllung, sondern nur um die Möglichkeit, sein Brot zu verdienen.

Erst eine schwere Herzoperation mit 50 Jahren hat mir die Gelegenheit geboten, aus dem Metzgerberuf auszusteigen, da ich körperlich dazu nicht mehr in der Lage war. Bis zu meiner Pensionierung war ich dann in der Kantonsschule Winterthur als Tierpfleger angestellt und betreute die vielen Reptilien und tausende von Fischen, die sie dort hielten. Das hat mir sehr gefallen. Wenn ich heute an diese Zeit denke, macht mich das immer noch glücklich.


Aufgezeichnet von Maja Dahinden