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«Ich hett so gern öpis glernt.»

Frau J. Gertsch

Ich bin an einem 1. April geboren, vor fast 93 Jahren. Mein Vater musste zu Fuss ins Dorf hinunter, um die Hebamme zu holen. Er hatte Bedenken, ob sie ihn ernst nehmen würde oder an einen Scherz glaube – denn dieser 1. April war zugleich noch ein Palmsonntag. Die Hebamme ist dann trotzdem gekommen, im Seitenwagen des Töffs, den ihr Mann fuhr; so war sie damals unterwegs!

Aufgewachsen bin ich in Biglen, im Emmenthal.  Von mir werden sie nichts über «die gute alte Zeit» hören. Früher war längst nicht alles besser, sicherlich nicht! Wenn ich mir die heutigen jungen Leute so anschaue – wie selbstbewusst sie sind und selbständig; so wäre ich gerne gewesen!

Zu meiner Zeit ging es vor allem darum, zu gehorchen und darauf zu achten, dass die Leute nichts Negatives über einen sagen. Die soziale Kontrolle im Dorf war enorm. Ich hätte es beispielsweise niemals gewagt, unter der Woche spazieren zu gehen, denn dann hätte es geheissen: «Hat sie nichts Besseres zu tun? Die ist faul!»

Dass man in seiner Freizeit den Bauern half, war selbstverständlich, sowohl wir Kinder als auch die Erwachsenen wurden eingespannt. Mein Vater hat als Schweisser in der Eisenmöbelfabrik gearbeitet. Wenn er abends nach Hause kam, hiess es oft: «Fritz, hilf uns beim Heuen!» oder: «Fritz, es muss noch ein Fueder Holz verladen werden!» Man musste einfach helfen. Ausserdem waren die Bauern die Höhergestellten in der dörflichen Hierarchie als die Arbeiter. Wir hatten nicht viel zu sagen. Als Mädchen sowieso nicht.


In diesem Haus sind wir aufgewachsen. Auf dem Foto ist mein Bruder abgebildet.

Als ich sieben Jahre alt war, ist mein jüngerer Bruder tödlich verunglückt, genau an meinem Geburtstag. So konnte ich mich nie mehr auf diesen Tag freuen. Wir haben ein Jahr lang schwarz getragen, sogar meine jüngere Schwester, die damals erst ein Jahr alt war, trug ein Jahr lang Trauer.

Alles, was ich trug, hat meine Mutter selbstgestrickt. Die Jacken, die Strümpfe und die Gloschlis, die Unterröcke. Hosen trugen nur die Buben. Ich weiss noch, wie sehr ich mir als Kind immer eine Windjacke wünschte, wenn die Bise durchs Tal fuhr und wir mit unseren gelismeten Kleidern auf dem langen Schulweg waren. Meine Hände waren oft blau gefroren. Wir trugen Schuhe mit Holzböden, Holzbödeler, und im Winter blieb der Schnee viele Zentimeter dick an der Sohle kleben. Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, als ich meine ersten Sportschuhe kriegte. «Heitere Fahne, waren die schnittig!»

In den Ferien ging ich jeweils zu einer Tante und einem Onkel, welche selbst kinderlos waren. Die Tante war sehr lieb, jedoch eingeschüchtert und unter der Fuchtel des Onkels, eines Machos, würde man heute sagen. Ich musste mich jeweils vor dem Essen an den Tisch stellen und sagen: «Herzliebster Onkel, bitte binde mir die Serviette», und nach dem Essen dasselbe Theater: «Herzliebster Onkel, bitte öffne meine Serviette wieder.» Stellen sie sich das vor! Heute bekäme jedes Kind einen Lachanfall, wenn das von ihm erwartet würde. Wir aber haben dazumal einfach alles gemacht, was uns gesagt wurde. So war das eben. Bei allen war das so. Es wurde gehorcht und nicht selbst nachgedacht.

Das Emmental war auch ein Tal der Sekten und «Stündeler». Es gab viele religiöse Gruppierungen dazumal. Die Leute sind nach dem sonntäglichen Kirchgang noch in die Bibelstunde gegangen. Diese religiösen Versammlungen fanden auf Bauernhöfen statt und hatten regen Zulauf. Ein Grund für den Erfolg der Sekten war sicherlich, dass die Pfarrherren der Kirche viel zu abgehoben predigten und die Menschen das gar nicht verstanden. Da kamen die Laienprediger, die verständlich sprachen, wie gerufen.



Ich habe keinen Beruf erlernen können. Das hat mich mein Leben lang beschäftigt: «Ich hett so gern öpis glernt.» Ich war eine sehr gute Schülerin und mein Lehrer sagte meinen Eltern, ich sollte gefördert werden. Doch sie hatten kein Ohr dafür - oder einfach kein Geld. Ich wurde nach der obligaten Schulzeit in ein Haushaltlehrjahr geschickt und machte anschliessend eine sechsmonatige Anlehre als Köchin. Ich musste mich immer selbst über Wasser halten, und in der damaligen Zeit, mit den winzigen Löhnen, war das nicht einfach.

«Für dich hät nie öpper glueget», sagte mir mal eine Freundin. Und ja, das stimmt. In der Schule war ich gut in Mathematik und Französisch und Geografie liebte ich über alles. Noch heute habe ich Landkarten gerne und Geografiebücher, ich muss immer genau wissen, wo zum Beispiel eine Stadt liegt oder eine bestimmte Gegend. Es hat mich schon mächtig gewurmt, dass ich nichts lernen durfte, während andere mit schlechteren Noten eine Berufslehre machen konnten.


Ich bin auch gerne für mich alleine und weiss mich zu beschäftigen. Die Puppen habe ich alle selbst gemacht und auch die Deckeli sind selbst gehäckelt.

1945 – 1948 arbeitete ich in Grindelwald als Köchin im Restaurant Terminus. Meinem Patron gehörte noch das Bergrestaurant «First», so dass ich oft am Nachmittag, nach der Morgenschicht im Tal, mit dem Sessellift zum First hochfuhr, dort kochte und dann wieder ins Tal runterfuhr zur Abendschicht. Einmal ist Königin Juliane von Holland, die auf der Wengernalp Ferien machte, ins Restaurant Terminus gekommen und hat hier zu Mittag gegessen. Der Küchenchef war gerade nicht da, und so habe ich für sie gekocht. Leider weiss ich nicht mehr das ganze Menu, nur noch, dass es etwas mit Pommes frites war.

Zwei Serviertöchter und ich teilten uns damals ein kleines Zimmer mit einem Brünneli im Gang. Das war unsere einzige Waschgelegenheit. Natürlich gab es nur kaltes Wasser. In unserem Betrieb arbeiteten auch zwei Italienerinnen, beide kamen aus Bologna. Sie mussten den ganzen Tag lang Geschirr abwaschen, damals gab es ja keine Spülmaschinen. Ich habe die zwei in bester Erinnerung. Sie haben immer gelacht und gesungen, den lieben langen Tag, egal wie hart sie arbeiten mussten. Und manchmal haben sie mir die Haare gemacht, haben sie gewaschen und mit Lockenwicklern drapiert, so dass ich mich selbst im Spiegel nicht mehr erkannt habe.

Damals habe ich als Köchin 220 Franken verdient im Monat. Als ich aber irgendwann gemerkt habe, wieviel Trinkgelder die Serviertöchter jeden Tag einnahmen, beschloss ich, auf den Service umzusatteln. So habe ich mich in einem Restaurant in Matten bei Interlaken beworben. Ich habe den Job bekommen und etwas später sagte mir mein neuer Patron, dass mein vorheriger Chef mich  angekündigt habe mit den Worten, ich sei «äs chliises Dicks und nid äs Schöns»; er aber habe mich trotzdem genommen – «äs hett ja na öpis viel Strüübers chöne cho».

Viele Jahre später habe ich ihn mal besucht und er sagte mir, ich sei die beste Serviertochter gewesen, die er je gehabt hätte. Das hat mich dann doch sehr gefreut – vor allem nach diesem etwas holprigen Start mit dem Wissen, dass ich eine kleine Dicke sei.


Mein Mann Werner und ich

In diesem Restaurant lernte ich dann meinen zukünftigen Mann kennen, den Werner. Fast ein wenig filmreif habe ich ihm Kaffee übers Hemd geschüttet, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Gleich nach der Hochzeit zogen wir nach Winterthur, weil mein Mann hier eine Stelle als Zimmermann gefunden hatte. «Höchstens fünf Jahre lang bleiben wir da», sagte er. – Das war vor 70 Jahren und wir sind immer in Winterthur geblieben.
Dieses Foto, mit unseren Kinder Heidi und Fritz, meinem Mann Werner und mir, entstand an der Hochzeit meiner Schwester.

Am 4. Dezember 2019 ist mein Mann verstorben, kurz nachdem wir ins St. Urban gezogen sind. Ich denke viel an ihn, er war ein sehr zufriedener, lieber Mann. Ich erinnere mich, wie ich einmal auf einer Wanderung im Tösstal ein paar teure Lederhandschuhe auf einem Bänkli vergessen habe und er nur meinte: «Gschech’ nüt schlimmers!» - So war er, er hat sich nie aufgeregt über Nebensächlichkeiten.

Früher fragte ich mich selbst oft: «Was kann ich eigentlich? Ich kann nicht mal Schreibmaschine schreiben oder Autofahren.» Aber etwas konnte ich wirklich gut: einen Haushalt führen, kochen, putzen und mich um meine Familie kümmern – da habe ich dann meine ganze Kraft reingesteckt; das wollte ich recht machen.

Der obligate Frühlingsputz beispielsweise, das war wie eine Seuche von früher. Ein Virus, von dem ich befallen war. Sobald die erste Frühlingssonne schien, habe ich mit dem Ausputzen begonnen, da ist nichts verschont geblieben. Mein Mann meinte nur: «Herrjeh, jetzt fängt sie wieder an zu putzen», aber ich konnte einfach nicht anders. Das habe ich schon als Kind immer machen müssen und habe es beibehalten, bis wir im Juli 2019 unsere Wohnung an der Waldeggstrasse aufgegeben haben und ins Altersheim gezogen sind.

Wir haben zwei Kinder bekommen, ein Mädchen und einen Jungen. Als ich mit Fritz, dem Buben, nach der Entbindung nach Hause gekommen bin, hat ihn unsere Tochter Heidi eine Weile betrachtet; dann fragte sie: «Bliibt dä lang bi Eus?»

Heidi ist mit 23 Jahren an multipler Sklerose erkrankt. Sie war Lehrerin und konnte trotz der Krankheit mehr als 20 Jahre lang Schule geben in Töss. Die Kinder hatten sie sehr gern und haben ihr auch immer geholfen, wenn ihr beispielsweise etwas runtergefallen ist. Sie ist mit  64 Jahren gestorben.

Jetzt gibt es noch Fritz und mich. Ich bin sehr dankbar für meinen Sohn, der mich fast täglich anruft und mich besuchen kommt. Wie schnell die Zeit vergeht und das Leben..

Ich bin froh, dass ich diese Zeit noch erleben darf! Heute ist sovieles, abgesehen vom Plastikmüll, besser als früher. Das einzige, was ich von der sogenannten guten alten Zeit vermisse, sind die Eisblumen am Fenster.

Aufgezeichnet am 17.10.2020 von Maja Friolet-Dahinden 


Mein Mann hat mir diesen wunderbaren Holzschrank selbst angefertigt.